Morz und wie er die Welt sah...

Montag, Oktober 01, 2007

MS Wissenschaft, die Zweite (17.09. - 30.09.)

Liebe Freunde,

ich sitze gerade am Fenster, schlürfe eine Tasse Tee und versuche, den neben mir lauernden Stapel Bücher zu ignorieren. Der Inhalt meines Briefkastens hat mich sehr gefreut. So viele Briefe hab ich sonst in 2 Monaten nicht bekommen. Dabei war ich nur 2 Wochen weg. Okay, okay, die meisten sind Auftragsbestätigungen, Rechnungen, die Hochstufung meiner Krankenkasse etc.; aber auch persönliche Briefe sind dabei. Eine Einladung zu Katrin Hausteins Halloweenparty, nette Zeilen von meiner Lieblings-Ana aus Madrid und sogar ein Päckchen von der Nadin. Schön, daß ihr an mich denkt.

Doch der eigentliche Grund dieses Briefes sind die 2 Wochen an denen ich eben nicht in Bremerhaven war. Am Sonntag vor 2 Wochen befand ich mich in einem mit Holzimitat versehenen VW Passat in Richtung Frankfurt, kuschelte mich in die Ledersitze um meinen Arthur C. Clarke zu Ende zu lesen und genoß den Sonnenuntergang über Thüringen. Wenn das Auto dabei noch gefahren wäre, hätte ich mich noch mehr gefreut, doch leider standen wir im Stau am Hermsdorfer Kreuz. Das hatte zur Folge, ebenso begünstigt durch eine Abendbrots- und mehrere Pinkelpausen, daß wir erst kurz nach 22Uhr unser Fahrziel Frankfurt Höchst erreichten. Doch ich musste noch weiter nach Aschaffenburg und meine letzte gute Verbindung dorthin war um 22.02 abgefahren. So hatte ich noch eine ganze Stunde Zeit, mir klischeebekannte Jugendliche auf einem dem Bahnhof Zoo nicht unähnlichen Tummelplatz beim Pöbeln anzuschauen. Glücklicherweise ließen sie mich in Ruhe und 2 Regionalzüge später erreichte ich Aschaffenburg. Da es nun schon etwa 1Uhr war, verspürte ich gerade gar keine Lust zur Stadterkundung und besorgte mir ein Taxi, was mich auch mehr oder minder direkt zum Ausstellungsschiff, der MS Wissenschaft, oder MS Jenny, wie sie richtig heißt, brachte. Es ist schon etwas komisch, in einer wildfremden Stadt auf einem Schiff in die Kajüte zu steigen, zu Menschen, die man ebenfalls noch nie gesehen hat und sich ein Bett neben ihnen zu machen. Sie wurden nicht einmal wach. Vermutlich der Schlaf der Gerechten, oder Koma. Und es wurde noch unwirklicher am nächsten Morgen, als ich im Schlüpfer die Treppe zur Küche hochstieg, in der Hoffnung, die Dusche unbesetzt zu finden und 4 Unbekannte mich vom Frühstück aufsehend mit einer unerträglichen Fröhlichkeit grüßten. Aber nach dem Zähneputzen und einer warmen Dusche sah das schon ganz anders aus. Sie waren so freundlich, mir meine offizielle Anreisefrist bis 13Uhr zum Stadterkunden freizugeben und ich revanchierte mich in der Zeit mit dem Einkauf (tragen, nicht bezahlen) für die nächsten Tage.

Aschaffenburg wird einerseits von der direkt am Mainufer thronenden Johannisburg bestimmt, wie auch durch die mitunter abenteuerlich wirkende Zusammenstellung mittelalterlicher (Fachwerk-)Bauten und moderner Kolosse. Die schon im 10. Jhd. gebaute Stiftsbasilika mit ihrem schönen Kreuzgang überraschte mich ebenso wie die mir schon aus Bremerhaven sehr wohl bekannten Wachturmverkäufer. Denn hier gab’s die sogar in 2 Sprachen. Die Deutschen versuchten mich im Anzug und mit gestriegeltem Haar vor der ewigen Verdammnis zu retten. Die Russen mit Rollstuhl und leidendem Blick. Nur ob die beiden Gruppen mit- oder gegeneinander arbeiteten, konnte ich nicht herausfinden. Es hätte mich auch durchaus interessiert, inwieweit sich die russische Hölle von der deutschen unterscheidet. Und vor allem, welche für mich vorgesehen war.

Zurück an Bord empfingen mich Karin und Albrecht, die Schiffseigner und Bruno, der spitzbäuchige Steuermann. Die Lotsen, die ihre Schicht fertig hatten, gingen von Bord und Karo war angekommen. Mit ihrem zielstrebigen Gang war sie mir schon in der Stadt aufgefallen. Sie hat schwarze kurze Haare, spitzbübische dreieckige (^.^) Augenbrauen und ein freches Mundwerk, das von schönen Lippen eingerahmt wird. Da sie darüberhinaus noch gerne ihr Hirn nutzt, haben wir uns von Anfang an gut verstanden. Conny, die ich die ersten Tage für meine Fahrtleiterin hielt (peinlich, peinlich), ist eine offene, schlanke, belesene Anglizistin, die ohne Brille vermutlich noch besser aussieht. Alex dagegen mimte eher den Mysteriösen und Unergründlichen, aber taute später auf und wusste dann fast theaterhafte Mimik und Gestik zu verwenden. Von Anfang an verstanden wir uns sehr gut. Die Chemie stimmte. Nichts musste per Regelung geklärt werden; die Arbeit war eher Nebensache. Wir unterhielten uns lieber bei Rotwein und Zimtauberginenauflauf bis in die Puppen über Gott und die Welt, auch Adorno und Jim Jarmusch waren dabei. Während der Ausstellungszeit steckten wir uns heimlich kleine Zettelchen mit Bilderrätseln in die Taschen, um uns die Zeit zu verkürzen.

Der Mittwoch war schon ein Fahrttag, aber ein ungemütlicher. Es war feuchtkalt und der Fahrtwind tat sein Übriges. Die Mädels lasen Papers zur Zusammenarbeit von Schimpansen in Gefangenschaft (Karo) und Verbreitung von Dialekten im Amerikanischen (Conny) und wickelten sich in meine Decke ein. Alex las Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, ich Clarkes „Songs of distant Earth“. So verteilten sich die Rollen klar. Darüberhinaus arbeitete ich die letzten 4 Kapitel von „Introduction in Physical Oceanography“ durch, bevor ich ruhigen Gewissens in die Landschaft schauen konnte. Auch der Abend in Würzburg war sehr kalt, so daß ich der einzige war, der sich noch mal an Deck wagte, um die Stadt zu erkunden. Am nächsten Morgen hatten sich Bruno und Scheubners in den Kopf gesetzt, schlecht gelaunt zu sein und all unsere Arbeit kritisieren zu müssen. Das hielt bis Ende der Fahrt an. Wir haben nie verstanden, ob sie nach 3½ Monaten einen Schiffskoller erlitten hatten, oder sich ausgeschlossen fühlten. Conny machte den Tag abends noch perfekt, als sie beim Losgehen ihr Portemonnaie und das Handy im Main versenkte. Am nächsten Abend führte uns Karo ihren täglichen Joggingweg die Festung hinauf, die witzigerweise nachts noch offen war und wir genossen den phänomenalen Blick über Main und Würzburg. Wieder unten angekommen, verabschiedete sich Alex zum „Glöckner von Notre Dame“, einer Stummfilmproduktion mit Begleitung, und ich zu Markus (einem Freund von Konsi) zum Bier trinken. Samstagabend kam dann wieder Gerald an Bord, der Bruno ablöste und ab jetzt war die Stimmung mit Scheubners wieder sehr viel entspannter. Wir grillten, wie es bei Gerald Brauch ist und begaben uns später noch zum Ramadanzelt an der alten Mainbrücke, was ich am Vorabend entdeckt hatte. Fastenzelte sind eigentlich zur Armenspeisung während des Fastenbrechens in der muslimischen Fastenzeit. Aber da es in Würzburg keine Armen gäbe, versicherte man uns, wäre das Fastenzelt hier dafür, das sich die muslimische Gemeinschaft vorstellt. Arabisch-türkische Leckereien vorstellen konnten wir uns eine Menge, aber leider kamen wir so spät, daß für uns nur noch Süßigkeiten über waren. Sonntagabend verabschiedeten sich Conny und Alex und unser neuer Fahrtleiter, Markus, kam an Bord. Bei ihm als langgedientem Freund Scheubners wurde Karo und mir schnell klar, daß wir erst ein paar Persönlichkeitschecks durchlaufen mussten, bevor wir die letzte Woche ständig übermittelten Stänkereien aus dem Weg räumen konnten. Der Montag führte uns durch 10 Schleusen nach Schweinfurt und das Wetter war klasse. Ich saß trotzdem meistens unter Deck um zu arbeiten. Markus las den „Schrecksenmeister“, was ihn mir gleich sympathischer machte und Karo räkelte sich mit Papers auf dem Deck in der Sonne, wobei ich ihr gerne in meinen Pausen (mit Loreena McKennitt) im Ohr zuschaute. Am späten Nachmittag erreichten wir Schweinfurt und legten, fast schon traditionsbehaftet, am Straßenstrich an. Markus, Karo und ich erkundeten die, bis auf ihr Rathaus, mit bemerkenswert schlechtem Händchen für Ästhetik wieder aufgebauten Stadt. Karo und ich tranken noch einen Tee in der Abendsonne und trafen dann Markus, aber auch Gerald und unsere neue Kollegin Claudia wieder in einer fränkischen Schenke. Es mussten vor uns schon viele andere Touristen hier gewesen sein, denn die Gerichte, deren Beschreibung sich mir erschloß, waren ausverkauft. Für die restlichen musste ich mich durch die englische Übersetzung kämpfen. Oder weiß einer von euch was „Schäufele“ sind, oder „Ungespundner“?

Schweinfurt lief sehr ruhig. Fast keine Besucher. Abends überredete Karo Gerald und mich mit zum Bowling zu kommen. Na gut. Und dann nahm er die Kugel in die Hand und legte lässig mal ne 170 hin. Grins. Dafür durften mich die Frustrierten im Dart kalt machen. Ich revanchierte mich dann beim Billard. Außer, daß ich vom Barkeeper einmal fast aus dem Laden geschmissen wurde, herrschte eitel Sonnenschein. Man schäkerte, erzählte sich Schwänke aus der Jugend und blickte sich (zumindest beim Anstoßen) tief in die Augen. Doch merkte ich auf dem Nachhauseweg, daß das spezielle Band zwischen uns weg war.

Auch die nächsten Tage in Schweinfurt verliefen unspektakulär. Erst in Bamberg war wieder mehr los. Trotz das wir außerhalb der Stadt an der Schleuse lagen, kamen Heerscharen von Interessierten und Schulklassen. Es gab sogar Shuttlebusse und die Geisteswissenschaftler versteckten sich erstmals nicht. Freitagabend fing (zum Leidwesen unserer Arbeitszeit) um 19Uhr eine Werkslesung von 7 Autoren statt. Und am Samstag und Sonntag folgten Worksshops (zu Wörterbüchern) und Kindermusiktheater („Die Händlerin der Worte“). Samstagabend, meinem letzten, wagten wir endlich den langen Weg in die Stadt. Beim Italiener bediente uns ein zahnloser Bulgare mit gutem italienischem Akzent und ich verstand endlich, daß Wladimir Kaminer Recht hatte. Wir saßen im Keller des Ringvogelhauses und bekamen einen vollen Eindruck davon, wie das Katakombengeflecht der komplett unterkellerten Stadt aussehen müsste. Danach führte uns Claudia, die in Bamberg lebt, zum Dom hinauf und durch die wunderschönen Gassen hinunter zur Regnitz. Wunderschön-romantische Stadt. Ich muß definitiv bei Tageslicht noch einmal zurückkommen. Im „Stilbruch“ ließen wir den Abend dann ausklingen und ich lernte endlich, was „Ungespundner“ ist. Am Sonntag kamen so viele Besucher, daß Markus mir das obligatorische Kajütenputzen erließ, damit ich bis zur letzten möglichen Minute in der Ausstellung bleiben konnte. Um 18Uhr nahmen Karo und ich dann ein Taxi und stiegen in den Zug nach Hause. Ab Nürnberg war der ICE voll mit Post-Wiesn-Gestalten. Leider komaten sie nicht aus, sondern waren immer noch in voller Stimmung. Und so schwamm mein reservierter Sitz schon in Bier und woanders stanks nach Scheiße. Aber ich fand noch eine ruhige, gemütliche Ecke und döste den Weg nach Bremen; in Gedanken an die letzten Wochen versunken….