Morz und wie er die Welt sah...

Dienstag, Juni 25, 2013

Baltikum - Von Tartu bis Riga (18.-21.06.2013)



Liebe Freunde,

herzlich willkommen zum zweiten Bericht meiner Reise durch die Weiten des Baltikums. Der heutige Tag sah eigentlich nur vor, von Tartu bis ins lettische Sigulda zu fahren. Da das allein aber zu langweilig ist, überlegten wir uns einige Zwischenziele. Torben fand im Reiseführer eine Wassermühle bei Kidjärv, Alex ein paar spektakuläre Steilkippen bei Taevaskoja und ich eine Wanderung im Luhasoo Nationalpark. Das hörte sich nach einer spannenden Tour an. Wir frühstückten gemütlich auf der Dachterrasse in der morgendlichen Mittagssonne und los ging es. Das Wetter wechselte zwischen bewölkt und sonnig und nach ca. einer Stunde hatten wir Kidjärv erreicht. Die Wassermühle liegt an einem schnellfließenden Bach mit kleinem See, auf dem das Schilf üppig wuchs und gelbe Kanus plätscherten. Hier hatten sich ein paar Esten mit ihren Holzhäusern eine schöne Idylle erschaffen. Und die Klippen von Taevaskoja lagen auch nur ca. 4km von hier. Einfach hinter dem Bach rechts abbiegen, und schon sind wir da. Nur leider fanden wir den Weg hinter dem Bach nicht. Wir fanden Akste, Ahja, Sääsaare, Adiste, Himmaste, Mammaste, Pölva und viele Dörfer und Höfe mehr, aber trotz Karte und Wegbeschreibung ließen sich diese Klippen nicht auftreiben. Nach etwa einer Stunde, trafen wir auf eine Gruppe Schulmädchen, die mein Englisch verstanden und den Ort Taevaskoja kannten. Mit ihrer Wegbeschreibung fanden wir ihn versteckt im Wald und folgten einem Schild, welches uns aber nicht zu Klippen, sondern zu einem Ferienlager führte. Auch hier hatte noch niemand von den spektakulären Steilklippen gehört. Nach einigem Suchen fanden wir im Wald den Fluss Ahja jögi wieder, einen Parkplatz und schließlich auch die Klippen. Sie ragen ca. 3m hoch auf und liegen an einem romantischen kleinen Stausee mit Picknickplatz. Nur das Wort „spektakulär“ wäre mir zu den kleinen Felsen nie eingefallen, eher „unscheinbar“ oder „niedlich“. Nach einem kurzen Spaziergang setzte ein leichter Nieselregen ein, so dass wir im Auto in Richtung lettischer Grenze entflohen.

Ab Rouge wurden die Straßen immer kleiner und ungefestigter. Der Nationalpark war zwar immer mal wieder ausgeschildert, aber ansonsten war die Landschaft dem Hinterland um die Klippen von Taevaskoja ähnlich. Aus Landstraßen wurden einfache Asphaltstraßen, aus Asphaltstraßen Schotterstraßen, aus Schotterstraßen Feldwege und kurz bevor der Feldweg ein Fußpfad zu werden drohte, erreichten wir die als Parkplatz dienende Wiese vor dem Nationalpark. Hier herrschte eine herrliche Stille, selbst die Vögel schienen gerade Siesta zu halten. Wir entschieden uns, erst spazieren zu gehen und dann Mittag zu machen. Der Pfad führte von der Wiese in einen kleinen Kiefernwald, der sich aber bald öffnete und dessen Bewuchs immer niedriger wurde. Statt Kiefern wuchsen Birken, dann kamen Federgras und Sonnentau. Am Pfad, der uns auf Planken immer weiter in ein intaktes Hochmoor führte, standen in regelmäßigen Abständen Tafeln, die uns über die Bedeutung der Pflanzen und die Zusammensetzung des Biotops aufklärten. Am innersten Punkt des Weges erreichten wir den Torfmoorsee. Hier wuchsen eigentlich nur noch kleine Kiefern und Moose. Nicht einmal eine Mücke war zu sehen. Dafür war gerade Massenhochzeit bei den Libellen. Sie tanzten und kämpften über dem schwarzbraunen See unbekannter Tiefe, an dem die Jahrhunderte bisher spurlos vorübergegangen zu sein schienen. Wenn jetzt gleich die uralte Morla aufgetaucht wäre, wäre ich nicht verwundert gewesen. Auf der anderen Seite des Sees lag versteckt eine kleine Wildhütte mit allem Drum und Dran: Lagerfeuerstelle, Pritschen zum Schlafen, Kaffee. Hier würde es sich aushalten lassen. Aber uns zog der Hunger zurück zum Auto. Nur stand der Weg aus dem Torfmoor heraus etwa eine Fußtiefe unter Wasser. Und er endete irgendwo mitten im Wald. Nach einigem Suchen entschieden wir uns für eine offensichtliche Lichtung, die uns durch zum Teil hüfthohes Gras quer über eine Wiese mit einem Riesenumweg zu einer Straße führte. Viel später als erwartet (aufgrund der langen Tage, ist die Uhrzeit praktisch nicht einzuschätzen) fanden wir endlich unser Auto und damit unser Mittagessen wieder. Es gab Reste der Schlachteplatte von gestern. Nur die Schweineohren waren inzwischen hart geworden und blieben für die Wildtiere.

Nach dem Essen fuhr Torben freundlicherweise weiter und nach einigem Suchen fanden wir einen Schotterweg, der uns nach Lettland brachte. Nun ging es noch einmal 150km in Richtung Riga auf einer schlechten Fernverkehrsstraße, bis wir am Abend Sigulda am Gauja Nationalpark erreichten. Sigulda ist an einem Tal in dem sonst sehr flachen Land gelegen und besteht aus vielen einzeln stehenden Häusern mit viel Garten und Bäumen drum herum. Wir fanden ein nettes Hotel mit einem riesigen Garten und Liegestühlen und fühlten uns sofort wohl hier.

Am nächsten Tag wollten wir das Gaujatal erkunden. Nach einem ausgiebigen Frühstück ging es zu Fuß zu dem noch in Sigulda gelegenen kleinen Schloss und der mittelalterlichen Burgruine, die einst vom deutschen Schwertbrüderorden hier erbaut wurde. Das Burgpersonal war in altertümliche Tracht gewandet und einer der Studenten gab mir einen Einführungskurs in den Schwertkampf. Auch die Aussicht über das Tal war wundervoll. Dieses überquerten wir mit der Seilbahn. Unter uns öffnete sich das Tal mit seinem schnell fließenden Gauja und den vielen Burgen, die hier zu unterschiedlichen Zeiten erbaut wurden. Etwas nicht zu identifizierenden hing in einem Baumwipfel, den die Seilbahn überstrich und als wir näher kamen, sahen wir, dass jemand einen mannsgroßen Teddy hier in der Krone platziert hatte, der den Anschein erweckte, den Baum gerade erklommen zu haben und der Seilbahn zuzuwinken. Die andere Seite des Gaujatals wies auch keinen Burgen- und Schlössermangel auf. Erst passierten wir eine zu einem Sanatorium umgebautes Landhaus und dann eine zerstörte Burgruine aus dem 14. Jhd. Dann führte uns der Pfad auf langer Treppe hinab ins Tal zu einigen Erosionshöhlen. Die berühmteste unter ihnen ist zweifelsfrei die Gutmannshöhle, um die sich die Geschichte der Rose von Turaida rankt. Der Legende zufolge wurde nahe der Burg Turaida nach dem Krieg mit den Schweden ein Baby auf dem Schlachtfeld gefunden und vom Burgherrn aufgezogen. Sie erblühte zu einer Schönheit – der Rose von Turaida – die von vielen Männern begehrt wurde. Aber wie in romantischen Geschichten üblich, verliebte sie sich in einen armen Jungen der auf der anderen Gaujaseite gelegenen Burg Sigulda und sie trafen sich heimlich auf halbem Weg – der Gutmannshöhle. Eines Tages lauerte ein abgewiesener Freier ihr bei der Höhle auf und erschlug sie. Der Bach, der aus der Höhle austritt, sind heute noch ihre Tränen. Bei dieser herzerweichenden Legende haben sich im Lauf der Geschichte viele Leute im weichen Sandstein der Höhle verewigt. Es sind ganze Wappen, zum Teil über 300 Jahre alt, in die Höhlenwand gekratzt worden. Aber die im Bach lebende Frösche und die vielen Zaunkönige im Umfeld der Höhle fand ich mindestens ebenso interessant. Nach gemütlichem Picknick stiegen wir wieder aus dem Tal auf zur Burg Turaida. Sie ist heute ein Museum, und wenn man erst einmal den italienischen, deutschen und chinesischen Reisegruppen entflohen ist, kann man in der Burg  - vom Verlies über den Burgfried und die Heizungsanlagen des 13.Jhds – einiges entdecken. Gegen 17 Uhr traten wir den Rückweg an. Also setzten wir uns an die Bushaltestelle und warteten. Und warteten. Und warteten. Fast zwei Stunden später kam der Bus endlich und wir fuhren zurück nach Sigulda. Abends grillten wir noch im Garten in der Abendsonne und nach einigen Runden Bohnanza ging es ab in die Heia.

Für heute klinkte sich Alex aus dem Tagesgeschäft aus, um einfach mal nichts zu tun. Auch Jimmy hatte aufgrund seines Rückens keine Lust, mit Torben und mir die für heute angedachte Kanutour mitzumachen. Und zu allem Übel fing es an zu nieseln. So entschlossen wir Jungs uns, statt den Fluss Gauja runter zu paddeln, nach Cesis zu fahren, um dort zu wandern. Der Weg führte uns durch diese recht alte Stadt mit verfallenen Holzhäusern und kleinen Gassen hin zur Ordensburg von Cesis. Eigentlich waren es sogar zwei herrschaftliche Gebäudekomplexe. Einerseits die Ordensburg selbst, deren mächtige Türme und einige der Zimmer noch standen. Ich finde von 4m dicken Mauern umgebene 30m hohen Wehrtürme immer wieder faszinierend. Hier würde ich einziehen – ebenso wie ich schon immer im Potsdamer Wasserturm am Theater einziehen wollte. Am Eingang erhielten wir eine Laterne, denn der Aufgang zum Südturm war komplett in tiefster Dunkelheit gefangen – nur ab und zu drang ein „incroyable“ der französischen Reisegruppe vor uns zu uns herunter. Als die Franzosen genug herumgewundert hatten, genossen wir die Aussicht von der Turmspitze aus über das Land. Neben der alten Burg lag aber noch ein unscheinbares Museum in einem als Landhaus anmutenden Gebäude. Es entpuppte sich aber als kleines Schloss des ausgehenden 18. Jhd. und mit seinem unergründlichen Aufbau – jedes Stockwerk hatte einen anderen Charakter, hinter jeder Ecke lauerte ein versteckter Gang, ein schmaler Aufstieg in ein anderes Zimmer oder den Turm – dass es mich sofort in seinen Bann zog. Im Erdgeschoß zeigte das Museum die Geschichte des Schlosses auf, in den oberen Stockwerken konnten wir aber einfach schön gestaltete Zimmer, wie der 200 Jahre alten Bibliothek, bestaunen und oben unter dem schwer zu findenden Dachstuhl wurden Gemälde und Skulpturen  aller Epochen ebenso wie kitschige Uhren ausgestellt. Höher lag nur noch der von der alten Burg verbliebene Turm mit seiner tollen Aussicht. Als wir das Museum verließen, hatte der Nieselregen immer noch nicht aufgehört und so setzten Torben und ich mich – nach einem Rundgang durch den Schlossgarten – in ein kleines Café, während Jimmy im Auto Siesta hielt. Ich aß verkehrte Welt – eine kalte Rote-Beete-Joghurtsuppe und trank dazu einen heißen Apfelsaft mit Karamell. Da das Wetter alles andere als zum Wandern einlud, fuhren wir zurück nach Sigulda, um zusammen einen faulen Spätnachmittag zu verleben. Alex machte Eierkuchen (Pfannkuchen, für die Nicht-Preußen) und wir schlemmten nach Herzenslust in den Sonnenuntergang hinein.

Die Nacht über ging es mir schlecht. Ich habe bis heute noch nicht herausfinden können, was ich nicht vertragen habe, denn ab 3Uhr verbrachte ich die Nacht in der Porzellanabteilung unseres Hostels. Als wir morgens in Richtung Riga aufbrechen wollten, war ich immer noch nicht transportfähig und der kalte Schweiß lief mir den Rücken herunter. Jimmy kochte mir freundlicherweise einen Tee und die anderen warteten geduldig, bis ich fit genug war, um die kurze Fahrt von 50km nach Riga zu wagen. Riga ist größer und geschäftiger als ich angenommen hatte. Und da das ständige Anfahren im Stau für meinen Magen einer andauernden Achterbahnfahrt gleich kam, stieg ich vorher aus und lief zu dem Hostel, das wir uns ausgeguckt hatten. Die anderen kamen zeitgleich hier an. Wir nahmen uns vier Betten in deinem Zehn-Bett-Dorm und während Jimmy und Torben einen Parkplatz suchten, blieb Alex bei mir im Hostel, wo ich sofort einschlief. Ich erwachte eine Stunde später, als die Hostelangestellte hereinkam und Alex fragte, ob sie ihr Handy in der Küche hatte liegenlassen. Falls ja, wurde es gerade geklaut. Sie hatte den Satz noch nicht beendet, als Alex schon die Treppe hinunterschoss, sich auf dem Überwachungsmonitor die Person ansah, die als letzte das Hostel verlassen hatte und aus der Tür flitzte. Alex fand den Typen in der Tat in einer Straße um die Ecke und entriss ihm ihr Handy. Ihr schnelles und beherztes  Auftreten hatte ihr das Telefon gerettet.

Als die Jungs wieder da waren, machten wir uns auf den Weg, die Stadt zu erkunden. Alex und Torben mussten noch Geld tauschen (Lettland hat noch nicht den Euro) und Jimmy und ich entdeckten die Altstadt. Riga unterscheidet sich sehr von Tallinn, obwohl beide Städte aus der Ordensritterzeit stammen. Auch Riga besitzt alte Gildehäuser, aber die meisten Häuser an den verwinkelten Strassen im Zentrum stammen wohl aus dem 19.Jhd. und fühlen sich gar nicht mittelalterlich an. Nachdem Jimmy und ich den Dom, die „Drei Brüder“ und den Pulverturm angesehen hatten, trennten sich unsere Wege. Ich brauchte nach der halben Stunde Fußmarsch dringend eine Pause und versuchte es in einem Café mit russischer Irish Folk Band heute erstmalig mit flüssiger Nahrung. Das ging auch ganz gut und so wagte ich mich wieder zu Fuß in die Stadt. An was ich mich am meisten in Riga erinnere, ist, dass alle Frauen, die ich sah, mit ihren leichten, farbigen Sommerkleidern die Sommerfrische in die Stadt trugen. Sie hatten sich herausgeputzt, um sich zu präsentieren und jedem zu zeigen, wie sie das Leben genossen. Ob es daran lag, dass heute der längste Tag des Jahres war, oder nach Wochen von oft bedecktem Wetter um die 20°C heute der Sommer mit voller Macht und fast 30°C über die Stadt hereinbrach, vermag ich nicht zu sagen. Auf jeden Fall war die holde Weiblichkeit schön anzusehen und vermochte mich mit ihrer guten Laune anzustecken. Ich schlenderte also über die Plätze der Altstadt hinaus, am Freiheitsdenkmal vorbei in Richtung Alberta Iela – einer Straße in dem größten Jugendstilviertel Europas, wodurch Riga seinen UNESCO-Weltkulturerbestatus errungen hatte. Die Häuser waren in Grundzügen den alten Bürgerwohnhäusern Potsdams nicht unähnlich (stammten sie denn auch aus derselben Zeit), aber die Fassaden der Rigaer Häuser waren viel fülliger und auch kitschiger mit Figürchen, Reliefs und Ornamenten verziert, als es in Potsdam der Fall ist. Beeindruckend übertrieben! Von dort aus begab ich mich den die Altstadt umgebenden, ehemaligen Burggraben entlang, welcher heute als Park umgestaltet wurde, und genoss die schattigen Bäume und flirtenden Pärchen auf den Parkbänken. Am anderen Ende des Parks fand ich schließlich die Markthallen Rigas, in denen auf tausenden Quadratmetern alles von frischen Kirschen über Käse bis selbstgemachter Schweinskopfsülze angeboten wurde. Um 17 Uhr hatte ich mich mit Jimmy im Hostel verabredet. Dort legte ich mich wieder hin und wir warteten auf die Rückkehr der anderen. Zu schwach, die Stadt weiter zu erkunden aber zu tatenlustig, diesen wunderschönen Abend im Dorm zu vergeuden, gingen Jimmy und ich über den Gräsermarkt auf dem Domplatz zu einem Orgelkonzert im Dom. Die Orgel war gut dimensioniert und füllte mit ihren markerschütternden Melodien von Bach bis Debussy die Schiffe der Kirche. Begleitet wurde sie bei einigen Stücken von Geige, Horn oder Flöte. Aber die schönsten Stücke gehörten der Altistin, die mit ihrer warmen Stimme die alten Säulen erzittern ließ.