Liebe Freunde,

herzlich willkommen zum zweiten
Bericht meiner Reise durch die Weiten des Baltikums. Der heutige Tag sah
eigentlich nur vor, von Tartu bis ins lettische Sigulda zu fahren. Da das allein
aber zu langweilig ist, überlegten wir uns einige Zwischenziele. Torben fand im
Reiseführer eine Wassermühle bei Kidjärv, Alex ein paar spektakuläre
Steilkippen bei Taevaskoja und ich eine Wanderung im Luhasoo Nationalpark. Das
hörte sich nach einer spannenden Tour an.

Wir frühstückten gemütlich auf der
Dachterrasse in der morgendlichen Mittagssonne und los ging es. Das Wetter
wechselte zwischen bewölkt und sonnig und nach ca. einer Stunde hatten wir
Kidjärv erreicht. Die Wassermühle liegt an einem schnellfließenden Bach mit
kleinem See, auf dem das Schilf üppig wuchs und gelbe Kanus plätscherten. Hier
hatten sich ein paar Esten mit ihren Holzhäusern eine schöne Idylle erschaffen.

Und die Klippen von Taevaskoja lagen auch nur ca. 4km von hier. Einfach hinter
dem Bach rechts abbiegen, und schon sind wir da. Nur leider fanden wir den Weg
hinter dem Bach nicht. Wir fanden Akste, Ahja,
Sääsaare, Adiste, Himmaste,
Mammaste, Pölva und viele Dörfer und Höfe mehr, aber trotz Karte und
Wegbeschreibung ließen sich diese Klippen nicht auftreiben. Nach etwa einer
Stunde, trafen wir auf eine Gruppe Schulmädchen, die mein Englisch verstanden
und den Ort Taevaskoja kannten. Mit ihrer
Wegbeschreibung fanden wir ihn versteckt im Wald und

folgten einem Schild, welches uns aber nicht zu Klippen,
sondern zu einem Ferienlager führte. Auch hier hatte noch niemand von den
spektakulären Steilklippen gehört.
Nach einigem Suchen fanden wir im Wald den
Fluss Ahja jögi wieder, einen Parkplatz und schließlich auch die Klippen. Sie
ragen ca. 3m hoch auf und liegen an einem romantischen kleinen Stausee mit
Picknickplatz. Nur das Wort „spektakulär“ wäre mir zu den kleinen Felsen nie
eingefallen, eher „unscheinbar“ oder „niedlich“. Nach einem kurzen Spaziergang
setzte ein leichter Nieselregen ein, so dass wir im Auto in Richtung lettischer
Grenze entflohen.

Ab Rouge wurden die Straßen immer
kleiner und ungefestigter. Der Nationalpark war zwar immer mal wieder
ausgeschildert, aber ansonsten war die Landschaft dem Hinterland um die Klippen
von Taevaskoja ähnlich. Aus Landstraßen wurden einfache Asphaltstraßen, aus
Asphaltstraßen Schotterstraßen, aus Schotterstraßen Feldwege und kurz bevor der
Feldweg ein Fußpfad zu werden drohte, erreichten wir die als Parkplatz dienende
Wiese vor dem Nationalpark. Hier herrschte eine herrliche Stille, selbst die
Vögel schienen gerade Siesta zu halten. Wir entschieden uns, erst spazieren zu
gehen und dann Mittag zu machen. Der Pfad führte von der Wiese in einen kleinen
Kiefernwald, der sich aber bald öffnete und dessen Bewuchs immer niedriger
wurde.

Statt Kiefern wuchsen Birken, dann kamen Federgras und Sonnentau. Am
Pfad, der uns auf Planken immer weiter in ein intaktes Hochmoor führte, standen
in regelmäßigen Abständen Tafeln, die uns über die Bedeutung der Pflanzen und
die Zusammensetzung des Biotops aufklärten. Am innersten Punkt des Weges
erreichten wir den Torfmoorsee. Hier wuchsen eigentlich nur noch kleine Kiefern
und Moose. Nicht einmal eine Mücke war zu sehen. Dafür war gerade
Massenhochzeit bei den Libellen. Sie tanzten und kämpften über dem
schwarzbraunen See unbekannter

Tiefe, an dem die Jahrhunderte bisher spurlos
vorübergegangen zu sein schienen. Wenn jetzt gleich die uralte Morla
aufgetaucht wäre, wäre ich nicht verwundert gewesen. Auf der anderen Seite des
Sees lag versteckt eine kleine Wildhütte mit allem Drum und Dran:
Lagerfeuerstelle, Pritschen zum Schlafen, Kaffee. Hier würde es sich aushalten
lassen. Aber uns zog der Hunger zurück zum Auto. Nur stand der Weg aus dem
Torfmoor heraus etwa eine Fußtiefe unter Wasser. Und er endete irgendwo mitten
im Wald. Nach einigem Suchen entschieden wir uns für eine offensichtliche
Lichtung, die uns durch zum Teil hüfthohes Gras quer über eine Wiese mit einem
Riesenumweg zu einer Straße führte. Viel später als erwartet (aufgrund der
langen Tage, ist die Uhrzeit praktisch nicht einzuschätzen) fanden wir endlich
unser Auto und damit unser Mittagessen wieder. Es gab Reste der Schlachteplatte
von gestern. Nur die Schweineohren waren inzwischen hart geworden und blieben
für die Wildtiere.

Nach dem Essen fuhr Torben
freundlicherweise weiter und nach einigem Suchen fanden wir einen Schotterweg,
der uns nach Lettland brachte. Nun ging es noch einmal 150km in Richtung Riga
auf einer schlechten Fernverkehrsstraße, bis wir am Abend Sigulda am Gauja
Nationalpark erreichten. Sigulda ist an einem Tal in dem sonst sehr flachen
Land gelegen und besteht aus vielen einzeln stehenden Häusern mit viel Garten
und Bäumen drum herum. Wir fanden ein nettes Hotel mit einem riesigen Garten
und Liegestühlen und fühlten uns sofort wohl hier.

Am nächsten Tag wollten wir das
Gaujatal erkunden. Nach einem ausgiebigen Frühstück ging es zu Fuß zu dem noch
in Sigulda gelegenen kleinen Schloss und der mittelalterlichen Burgruine, die
einst vom deutschen Schwertbrüderorden hier erbaut wurde. Das Burgpersonal war
in altertümliche Tracht gewandet und einer der Studenten gab mir einen
Einführungskurs in den Schwertkampf. Auch die Aussicht über das Tal war
wundervoll. Dieses überquerten wir mit der Seilbahn. Unter uns öffnete sich das
Tal mit seinem schnell fließenden Gauja und den vielen Burgen, die hier zu
unterschiedlichen Zeiten erbaut wurden. Etwas nicht zu identifizierenden hing
in einem Baumwipfel, den die Seilbahn überstrich und als wir näher kamen, sahen
wir, dass jemand einen mannsgroßen Teddy hier in der Krone platziert hatte, der
den Anschein erweckte,

den Baum gerade erklommen zu haben und der Seilbahn
zuzuwinken. Die andere Seite des Gaujatals wies auch keinen Burgen- und
Schlössermangel auf. Erst passierten wir eine zu einem Sanatorium umgebautes
Landhaus und dann eine zerstörte Burgruine aus dem 14. Jhd. Dann führte uns der
Pfad auf langer Treppe hinab ins Tal zu einigen Erosionshöhlen. Die berühmteste
unter ihnen ist zweifelsfrei die Gutmannshöhle, um die sich die Geschichte der
Rose von Turaida rankt. Der Legende zufolge wurde nahe der

Burg Turaida nach
dem Krieg mit den Schweden ein Baby auf dem Schlachtfeld gefunden und vom
Burgherrn aufgezogen. Sie erblühte zu einer Schönheit – der Rose von Turaida –
die von vielen Männern begehrt wurde. Aber wie in romantischen Geschichten
üblich, verliebte sie sich in einen armen Jungen der auf der anderen Gaujaseite
gelegenen Burg Sigulda und sie trafen sich heimlich auf halbem Weg – der
Gutmannshöhle. Eines Tages lauerte ein abgewiesener Freier ihr bei der Höhle
auf und erschlug sie. Der Bach, der aus der Höhle austritt, sind heute noch
ihre Tränen. Bei dieser herzerweichenden Legende haben sich im Lauf der
Geschichte viele

Leute im weichen Sandstein der Höhle verewigt. Es sind ganze
Wappen, zum Teil über 300 Jahre alt, in die Höhlenwand gekratzt worden. Aber
die im Bach lebende Frösche und die vielen Zaunkönige im Umfeld der Höhle fand
ich mindestens ebenso interessant. Nach gemütlichem Picknick stiegen wir wieder
aus dem Tal auf zur Burg Turaida. Sie ist heute ein Museum, und wenn man erst
einmal den italienischen, deutschen und chinesischen Reisegruppen entflohen
ist, kann man in der Burg
- vom Verlies
über den Burgfried und die Heizungsanlagen des 13.Jhds – einiges entdecken.
Gegen 17 Uhr traten wir den Rückweg an. Also setzten wir uns an die Bushaltestelle
und warteten. Und warteten. Und warteten. Fast zwei Stunden später kam der Bus
endlich und wir fuhren zurück nach Sigulda. Abends grillten wir noch im Garten
in der Abendsonne und nach einigen Runden Bohnanza ging es ab in die Heia.

Für heute klinkte sich Alex aus
dem Tagesgeschäft aus, um einfach mal nichts zu tun. Auch Jimmy hatte aufgrund
seines Rückens keine Lust, mit Torben und mir die für heute angedachte Kanutour
mitzumachen. Und zu allem Übel fing es an zu nieseln. So entschlossen wir Jungs
uns, statt den Fluss Gauja runter zu paddeln, nach Cesis zu fahren, um dort zu
wandern. Der Weg führte uns durch diese recht alte Stadt mit verfallenen
Holzhäusern und kleinen Gassen hin zur Ordensburg von Cesis. Eigentlich waren
es sogar zwei herrschaftliche Gebäudekomplexe. Einerseits die Ordensburg
selbst, deren mächtige Türme und einige der Zimmer noch standen. Ich finde von
4m dicken Mauern umgebene 30m hohen

Wehrtürme immer wieder faszinierend. Hier
würde ich einziehen – ebenso wie ich schon immer im Potsdamer Wasserturm am
Theater einziehen wollte. Am Eingang erhielten wir eine Laterne, denn der
Aufgang zum Südturm war komplett in tiefster Dunkelheit gefangen – nur ab und
zu drang ein „incroyable“ der französischen Reisegruppe vor uns zu uns
herunter. Als die Franzosen genug herumgewundert hatten, genossen wir die
Aussicht von der Turmspitze aus über das Land. Neben der alten Burg lag aber
noch ein unscheinbares Museum in einem als Landhaus anmutenden Gebäude.

Es
entpuppte sich aber als kleines Schloss des ausgehenden 18. Jhd. und mit seinem
unergründlichen Aufbau – jedes Stockwerk hatte einen anderen Charakter, hinter
jeder Ecke lauerte ein versteckter Gang, ein schmaler Aufstieg in ein anderes
Zimmer oder den Turm – dass es mich sofort in seinen Bann zog. Im Erdgeschoß zeigte
das Museum die Geschichte des Schlosses auf, in den oberen Stockwerken konnten
wir aber einfach schön gestaltete Zimmer, wie der 200 Jahre alten Bibliothek,
bestaunen und oben unter dem schwer zu findenden Dachstuhl wurden Gemälde und
Skulpturen
aller Epochen ebenso wie
kitschige Uhren ausgestellt. Höher lag nur noch der von der alten Burg
verbliebene Turm mit seiner tollen Aussicht. Als wir das Museum verließen,
hatte der Nieselregen immer noch nicht aufgehört und so setzten Torben und ich
mich – nach einem Rundgang durch den Schlossgarten – in ein kleines Café,
während Jimmy im Auto Siesta hielt. Ich aß verkehrte Welt – eine kalte
Rote-Beete-Joghurtsuppe und trank dazu einen heißen Apfelsaft mit Karamell. Da
das Wetter alles andere als zum Wandern einlud, fuhren wir zurück nach Sigulda,
um zusammen einen faulen Spätnachmittag zu verleben. Alex machte Eierkuchen
(Pfannkuchen, für die Nicht-Preußen) und wir schlemmten nach Herzenslust in den
Sonnenuntergang hinein.

Die Nacht über ging es mir
schlecht. Ich habe bis heute noch nicht herausfinden können, was ich nicht
vertragen habe, denn ab 3Uhr verbrachte ich die Nacht in der Porzellanabteilung
unseres Hostels. Als wir morgens in Richtung Riga aufbrechen wollten, war ich
immer noch nicht transportfähig und der kalte Schweiß lief mir den Rücken herunter.
Jimmy kochte mir freundlicherweise einen Tee und die anderen warteten geduldig,
bis ich fit genug war, um die kurze Fahrt von 50km nach Riga zu wagen. Riga ist
größer und geschäftiger als ich angenommen hatte. Und da das ständige Anfahren
im Stau für meinen Magen einer andauernden Achterbahnfahrt gleich kam, stieg
ich vorher aus

und lief zu dem Hostel, das wir uns ausgeguckt hatten. Die
anderen kamen zeitgleich hier an. Wir nahmen uns vier Betten in deinem
Zehn-Bett-Dorm und während Jimmy und Torben einen Parkplatz suchten, blieb Alex
bei mir im Hostel, wo ich sofort einschlief. Ich erwachte eine Stunde später,
als die Hostelangestellte hereinkam und Alex fragte, ob sie ihr Handy in der
Küche hatte liegenlassen. Falls ja, wurde es gerade geklaut. Sie hatte den Satz
noch nicht beendet, als Alex schon die Treppe hinunterschoss, sich auf dem
Überwachungsmonitor die Person ansah, die als letzte das Hostel verlassen hatte
und aus der Tür flitzte. Alex fand den Typen in der Tat in einer Straße um die
Ecke und entriss ihm ihr Handy. Ihr schnelles und beherztes
Auftreten hatte ihr das Telefon gerettet.

Als die
Jungs wieder da waren, machten wir uns auf den Weg, die Stadt zu erkunden. Alex
und Torben mussten noch Geld tauschen (Lettland hat noch nicht den Euro) und
Jimmy und ich entdeckten die Altstadt. Riga unterscheidet sich sehr von
Tallinn, obwohl beide Städte aus der Ordensritterzeit stammen. Auch Riga
besitzt alte Gildehäuser, aber die meisten Häuser an den verwinkelten Strassen
im Zentrum stammen wohl aus dem 19.Jhd. und fühlen sich gar nicht
mittelalterlich an. Nachdem Jimmy und ich den Dom, die „Drei Brüder“ und den
Pulverturm angesehen hatten, trennten sich unsere Wege. Ich brauchte nach der
halben Stunde Fußmarsch dringend eine Pause und versuchte es in einem Café mit
russischer Irish Folk Band heute erstmalig mit flüssiger Nahrung. Das ging auch
ganz gut und so wagte ich mich wieder zu Fuß in die Stadt.

An was ich mich am
meisten in Riga erinnere, ist, dass alle Frauen, die ich sah, mit ihren
leichten, farbigen Sommerkleidern die Sommerfrische in die Stadt trugen. Sie
hatten sich herausgeputzt, um sich zu präsentieren und jedem zu zeigen, wie sie
das Leben genossen. Ob es daran lag, dass heute der längste Tag des Jahres war,
oder nach Wochen von oft bedecktem Wetter um die 20°C heute der Sommer mit
voller Macht und fast 30°C über die Stadt hereinbrach, vermag ich nicht zu
sagen. Auf jeden Fall war die holde Weiblichkeit schön anzusehen und vermochte
mich mit ihrer guten Laune anzustecken. Ich schlenderte also über die Plätze
der Altstadt hinaus, am Freiheitsdenkmal vorbei in Richtung Alberta Iela –
einer Straße in dem größten Jugendstilviertel Europas, wodurch Riga seinen
UNESCO-Weltkulturerbestatus errungen hatte. Die Häuser waren in Grundzügen den
alten Bürgerwohnhäusern Potsdams nicht unähnlich (stammten sie denn auch aus
derselben Zeit), aber die Fassaden der Rigaer Häuser waren viel fülliger und
auch kitschiger mit Figürchen, Reliefs und Ornamenten verziert, als es in
Potsdam der Fall ist.

Beeindruckend übertrieben! Von dort aus begab ich mich
den die Altstadt umgebenden, ehemaligen Burggraben entlang, welcher heute als Park
umgestaltet wurde, und genoss die schattigen Bäume und flirtenden Pärchen auf
den Parkbänken. Am anderen Ende des Parks fand ich schließlich die Markthallen
Rigas, in denen auf tausenden Quadratmetern alles von frischen Kirschen über
Käse bis selbstgemachter Schweinskopfsülze angeboten wurde. Um 17 Uhr hatte ich
mich mit Jimmy im Hostel verabredet. Dort legte ich mich wieder hin und wir
warteten auf die Rückkehr der anderen. Zu schwach, die Stadt weiter zu erkunden
aber zu tatenlustig, diesen wunderschönen Abend im Dorm zu vergeuden, gingen
Jimmy und ich über den Gräsermarkt auf dem Domplatz zu einem Orgelkonzert im
Dom. Die Orgel war gut dimensioniert und füllte mit ihren markerschütternden
Melodien von Bach bis Debussy die Schiffe der Kirche. Begleitet wurde sie bei
einigen Stücken von Geige, Horn oder Flöte. Aber die schönsten Stücke gehörten
der Altistin, die mit ihrer warmen Stimme die alten Säulen erzittern ließ.
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