Morz und wie er die Welt sah...

Donnerstag, Juni 27, 2013

Baltikum - Von Riga zurück nach Tallinn (22.-25.06.2013)



Liebe Freunde,

heute schreibe ich euch vom dritten und letzten Teil meiner Reise durch das Land der mit Kiefern gesäumten Ostseeküste, der roten Beete, Walderdbeeren und der Sprachen mit zu vielen ÜÜÜÜÜs und ÄÄÄÄÄs. Letzten Samstag nun war die Zeit des Abschieds gekommen. Des Abschieds von Alex. Sie musste aus beruflichen Gründen schon früher zurück nach Deutschland, hatte aber noch einen Tag in Riga zur Verfügung. Nach dem Frühstück verließen wir das Hostel in Richtung geparktem Auto und wünschten Alex noch einen schönen Tag in Lettland. Vor uns Jungs lag die wohl längste Etappe unserer Reise – von Riga nach Saaremaa – immer an der Ostseeküste entlang. Ich war allerdings bald von der Fahrt enttäuscht, da wir zwar parallel zur Küste fuhren, aber sie aufgrund einiger 100Meter Kiefernwalds nie zu Gesicht bekamen. Daher bogen wir zwischendurch mal ab, um an einer Stelle mit besonders schönen Klippen auf die Ostsee zu schauen. Ihr erinnert euch an meinen letzten Post? Genau, hier war es ebenso. Wir sind zwar einige Kilometer auf Waldwegen immer an der Küste entlang gefahren, bis wir vor einem Privatgrundstück standen und alles zurückfahren mussten, aber keine Klippen weit und breit. Trotzdem war die mit Findlingen übersäte Küste recht schön – in einem „schön anzuschauen“-Sinn, nicht im „schön hier baden zu gehen“-Sinn.  Dann verließen wir schließlich Lettland, in dem jedes zweite Wort wie Laubskaus klingt und betraten erneut das Land der Esten (in dem jedes zweite Wort wie Bikülää, ääh Bierkühler klingt). Am frühen Nachmittag trafen wir in Virtsu auf die anderen Mittsommernachtswilligen vor der Fähre. Es bildete sich eine lange Schlange vor dem Anleger, und wir mussten zwei Fähren ziehen lassen, bis wir endlich an Bord kommen durften. Doch schließlich lagen die Inseln vor uns.

Zuerst Muhu, die immer nur als Fußabtreter der größeren Insel Saaremaa gehandelt wird. Völlig zu Unrecht, wie ich finde. Neben dem besten Restaurant Estlands (dass wir zu meinem Bedauern aufgrund basisdemokratischer Abstimmung ausließen) besitzt Muhu auch noch einige Windmühlen, ganz zu schweigen von flacher grüner Landschaft, leuchtend gelben Rapsfeldern und dem Fischerdorf Koguva – unserem ersten Ziel. Dieses nach einem japanischen Landschaftsmaler der Edo-Epoche klingende Dorf ist heute ein Museumsdorf, dass mit 500 Jahren Inzucht von sich reden macht. Nein, ehrlich. Am Ortseingang steht als Hauptmerkmal, dass das Dorf 1532 gegründet wurde und dass es heute noch mehrheitlich von den Gründungsfamilien bewohnt wird. Fast alle Bewohner sahen aber zumindest rein äußerlich normal aus. Bis auf die Werke der ortsansässigen Künstlerin, die Bronzeskulpturen mit Rottweilerkörper und Penis mit Stachelhalsband als Kopf fertigte. Und die barbäuchigen Esten, die in der Nachmittagssonne vor ihrem Künstlercafé Wodka in sich hineinschütteten. Ansonsten war es nahezu menschenleer in Koguva. Vielleicht war ich doch etwas vorschnell mit meinem Urteil über Normalität. Am Hafen ließ man uns aber in das Fischereimuseum eintreten, welches eigentlich derzeit geschlossen war, da der ortsansässige Fischer gerade Mittagsschlaf hielt und wir fanden – nur alte Netze und Bojen. Kein Vergleich zum Kapitänsmuseum von Käsmu. Doch die Häuser des Dorfes machten schon einiges her. Sie waren alle reetgedeckt, von alten, bemoosten Steinmauern umgeben und in der Nachmittagssonne wildromantisch. Das andere Highlight auf Muhu ist die Straußenfarm. Leider schloss sie gerade, so dass wir unseren Besuch um zwei Tage verschieben mussten.

Über den Damm durch die Ostsee kamen wir schließlich nach Saaremaa. Torben hatte unsere Unterkunft im Voraus gebucht, denn wir fürchteten, zur Mittsommernacht sonst keine mehr zu bekommen. Nach einigem Suchen fanden wir sie auch – versteckt im Wald. Der Verwalter kam per Fahrrad und zeigte uns unsere kleine Hütte in der Größe der Huckleberry-Finn-Flöße auf der Havel. Wenn wir unser Gepäck im Auto lassen würden, würde es gehen. Außerdem gab es ein paar Holzhäuser, von denen eines bewohnt war. Wir nannten die 20-köpfige Partytruppe, die sich mit einer großen Anlage, aus der vom Dschingin-Khan-Klassiker „Moskau“ (auf Estnisch) bis Techno alles lief, und Bier über Wasser hielt, nur noch den Orden der Partybrüder. Während Torben und Jimmy versuchten, einen Laden für Abendbrot zu finden, packte ich schon mal aus. Und das estnische Mückentötulin von Torben zeigte seine chemische Überlegenheit mit ganzem Stolz, so dass ich bei Rückkehr der Jungs nicht als ausgeblutete Leiche vor der Hütte lag. Wir grillten mit geklautem Holz und Kohlen aus dem Laden und es wurde noch ein gemütlicher Abend (zu Technomusik).

Nachdem wir am nächsten Tag gegen Mittag von Techno geweckt wurden, beschlossen wir, die Insel zu erkunden. Also ab ins Auto und in den Nationalpark Vilsandi. Eine ältere Dame harrte tapfer allein im Besucherzentrum aus und erklärte uns anhand von detaillierten Karten alle Wanderwege der Insel. Wir versuchten es an der Küste und stellten fest, dass der Weg zur Insel Vilsandi durch mehrere Kiesbänke und bis zu hüfthohes Ostseewasser führte. Aber da der Tag schon fortgeschritten war, Torben seine Badehose und ich meine neu gekaufte Neoprenfüßlinge *stolz* leider in der Hütte gelassen hatten, entschieden wir uns gegen die Wanderung. Wenn ich noch einmal nach Saaremaa kommen sollte, werde ich nach Vilsandi wandern. Stattdessen fuhren wir auf Schotterwegen (mehrfach aufsetzend) an das Kap Undva, wo es am Strand Fossilien geben sollte. Auch hier waren wir nicht allein, denn eine estnische Familie trank sich schon für Mittsommernacht warm, aber die weit in die nur wenige Zentimeter tiefe Ostsee hinausragende Kiesbank war einfach traumhaft. Und in der Tat, bestand praktisch jeder dritte Stein, den ich umdrehte, aus Fossilien. Zwar habe ich weder Donnerkeil noch Ammoniten gefunden, aber viele versteinerte Korallen, Schwämme und Seeanemonen. Zumindest eine habe ich mir eingesteckt. Der Rest bleibt für andere Sammler. Die Rundtour führte uns nun weiter über die Panga pank - das sind erstmalig Klippen, die wir gefunden haben (wie die Kreidefelsen auf Rügen, nur kleiner und dennoch sehr schön), und die Mühlen von Angla (fünf nebeneinander aufgestellte Bockwindmühlen, die holländisch anmuten und voll von Touristen waren) hin nach Kaali. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund trafen die Insel Saaremaa mehr Meteoriten als jeden anderen Punkt der Erde. Und in Kaali befand sich ein Meteoritenkrater, der das Ideal eines Kraters darstellte: Die richtige Größe, um sich den eingeschlagenen Meteoriten auch vorstellen zu können, romantisch von Bäumen umsäumt und perfekt in Form. Nur das viel größere, davor gezimmerte Hotel störte ein wenig. Da ich einen von Mittsommernachtsanwärtern angebotenen Captain Morgan auf Ex nicht ablehnen konnte, fuhr nun Torben den Weg zurück zu unserer Hütte. Abends gab es mal wieder Fleisch vom Grill und selbstgebrautes Bier vom Nachbardorf, dass uns der Besitzer unseres Anwesens anbot. Kurz vor Sonnenuntergang, also gegen 23:30 machten wir uns mit ein paar Sixpacks bewaffnet auf zum Strand und von dort aus zum nächst gelegenen Dorf, um die Mittsommernacht der Esten zu erleben. Jimmy verließ sehr schnell die Lust und kehrte um, doch Torben und ich stapften weiter den Strand entlang, um eine Stunde später in Salme einzutreffen. Wider Erwarten waren wir etwas zu spät. Die Dorfjugend hatte schon von Freitag an durchgesoffen und schwächelte nun etwas, und das mit ganzen Bäumen entzündete Feuer war schon sichtlich runtergebrannt. Dennoch war es ein schönes Spektakel. Die Pärchen saßen am Feuer, kleine Kinder spielten trotz der fortgeschrittenen Stunde fröhlich am Karussell und die ortsansässige Band spielte ABBA und andere berühmte Schlager der 70er (natürlich auf Estnisch). Auch Torben und ich nahmen am Feuer Platz und kamen mit der gelassen gut gelaunten Bevölkerung ins Gespräch. Erst unterhielt sich ein etwas russenhassender Elektriker mit uns, dann zwei mit Handtäschchen bewehrte Fashion Victims, die erst heute mit dem Helikopter die Nachbarinsel besucht hatten. Als Torben schon zweimal eingenickt war, traten wir den Rückweg an, den wir leicht fanden, da es schon wieder hell war. Von Mücken zerstochen, fielen wir in unserem Pumakäfig von Hütte auf die Matratze.

Heute stand die Rückfahrt nach Tallinn auf dem Programm. Doch zuerst zollten wir der Bischofsburg von Kuressaare einen Besuch ab. Die noch vollständig erhaltene, aus dem 13. Jhd. stammende Burg lud zum Verlaufen ein. Erneut beeindruckten mich all die versteckten Gänge, dicken Mauern und der undurchsichtige Aufbau. Auf dem Weg zurück zur Fähre hielten wir auf Muhu erneut an der Straußenfarm. Man muss schon (im positiven Sinne) etwas verrückt sein, wenn man in Estland Strauße züchten möchte. Aber die Tiere fühlten sich sichtlich wohl. Und das Futter wurde mit Sicherheit durch den Eintritt und den Souvenirshop bezahlt. Neben Straußen gab es auf der Farm auch Emus, Alpakas, Wallabys und Zebras zu bestaunen. Und dümmliche Touristen. Nun blieb uns nur noch die Fähre. Das „nur noch“ war etwas übertrieben, wie wir einige Kilometer später feststellen mussten. Natürlich wollten alle Esten (und ich meine ALLE Esten) heute wieder zurück aufs Festland und so stellten wir uns brav in die kilometerlange Schlange. Die wartenden Menschen beschäftigten sich jeder auf seine Weise. Einige lösten Kreuzworträtsel, andere tranken die Reste vom Vorabend hinter dem geöffneten Kofferraum mit Stereoanlage, wieder andere sammelten Walderdbeeren oder beschäftigten sich mich anderer Leute Geschlechtsteilen auf den Fahrersitz. Jimmy setzte sich an den Hafen, Torben las seinen Roman weiter und ich schlief über meinem ein. Dennoch habe ich an dem Tag 200 Seiten gelesen, denn wir standen in Summe fast 5 Stunden im Stau. Aber am Ende erreichten wir die feste Erde dennoch. In Tallinn angekommen klingelten wir die Angestellte des Hostels aus dem Bett und schliefen den Schlaf der Gereisten.

Der letzte Tag der Reise brach früh an. Zuerst fuhren wir Jimmy zum Flughafen, verabschiedeten uns von ihm und brachten dann das Auto zurück. Torbens Flug war der nächste und am Ende kam meiner. Aufgrund der langen Reise habe ich an diesem Tag nochmals 300 Seiten lesen können und am Ende nicht mal einen Flug verpasst. Meine Rückreise verlief herrlich unspektakulär Tallinn – Riga – Frankfurt – Würzburg – München und als ich gegen 1:00 endlich in mein Bett fiel, träumte ich von Straußen, Mühlen und die Altstadtstraßen entlang schlendernden Rigaerinnen in Sommerkleidchen.