Morz und wie er die Welt sah...

Donnerstag, September 10, 2009

Kolumbien - Ein ganz normaler Tag

Liebe Freunde,

meine Mutter schrieb mir gerade und fragte, wie eigentlich ein ganz normaler Tag hier in Armenia fuer mich aussieht. Vielleicht interessiert euch das ja auch, also trag ich das mal zusammen....

....wie sieht ein ganz normaler Tag fuer mich hier aus? Mmh. Der Wecker klingelt um 6.45, weil meine offizielle Arbeitszeit um 8.00 losgeht. Ich finde, dass das noch extrem frueh ist, aber weil Kolumbien so dicht am Aequator liegt und deshalb der Tag genau von 6Uhr bis 18Uhr lang ist, stehen die meisten Menschen hier sehr frueh auf. Meine Gastmutter zum Beispiel um 4.30, damit sie das Mittagessen fuer die Familie kochen kann. Sie und der Rest meiner Gastfamilie verlaesst um 6.30 das Haus, denn Schule (fuer Lehrer und Schueler) beginnt um 7.00. Mir ist 6.45 dennoch noch etwas zu frueh, also stell ich den Wecker aus und dreh mich nochmal rum. 7.45 steh ich dann schliesslich auf, begutachte stolz die Anzahl der Trophaeen der naechtlichen Mueckenjagd, vergleiche diese mit der Anzahl der Mueckenstiche, bin enttaeuscht ueber das Resultat, dusche, mach mein Bett (ja, als braver Gastsohn macht man das) und esse etwas. Zum Fruehstueck esse ich entweder Cornflakes mit Milch oder Stulle mit Kaese oder der teuren spanischen Chorizo, die ich neulich im Supermarkt fand. Wurst ist hier ansonsten ungeniessbar. Jeden Tag gebratenes Ei mit Wuerstchen, Maisfladen und heisse Schokolade wie die Einhemischen, das kann ich nicht. Da bin ich zu europaeisch. Dazu fleeze ich mich normalerweise vor die Nachrichten um 8.00 in Deutsche Welle TV und gegen 8.30 verlasse ich nach dem Abwasch das Haus meiner Gastfamilie. Mein 20-Minuten-Marsch bergauf macht mich wach und solange ich vor 9.00 (also vor meiner Professorin) im Labor bin, ist alles super.

Was am Tag zu tun ist, ist tagesformabhaengig. Die letzten 2 Wochen hatte ich viel am Computer zu tun, denn meine Professorin hat mich gebeten, einen Vortrag ueber meine Diplomarbeit zu halten. Mmh, Elektroingenieuren, Chemikern und Lebensmitteltechnologen etwas ueber Meeresstroemungen zur letzten Eiszeit erzaehlen? Da fang ich wohl etwas frueher an. Am besten eine komplette Einfuehrung in die Klimawissenschaften. Vorgestern war ich schliesslich fertig, mit schoen aufgepeppten 65 Folien in LaTeX. Die mussten toll aussehen, da ich den Leuten hier LaTeX installiert und nahegelegt habe. Und dann muss mein Vortrag natuerlich bunter, innovativer, hyperverlinkter und allgemein toller sein als ihre Powerpointvortraege. Das war dann gestern und lief ziemlich gut. Zumindest die erst 2 Teile meines fuenfteiligen Vortrags denn weiter kam ich gestern nicht. Nach 75 Minuten haben wir abgebrochen und alles auf kommenden Freitag vertagt. Optisch muss er wohl ziemlich eingeschlagen sein, denn heute Nachmittag geb ich meine erste Einfuehrung in LaTeX.

Ansonsten, wie sieht es hier aus? Direkt vor meinem Labor wachsen Baeume und Bambus. Aufgrund der Topographie stehen nur auf der Haelfte der Flaeche der Uni Gebaeude. Der Rest sind steile Senken, in denen Wald waechst. Daher tuemmeln sich vor meinem Fenster oft seltene, bunte Voegel, eine Theatertruppe, die ungestoert proben will oder die oertlichen Kiffer.

Dienstags und mittwochs habe ich von 10-12 Spanischunterricht. Wir Auslaender (2-5 ueber die Zeit) setzen uns dann mit Álvaro, unserem Spanischlehrer, zusammen und quatschen ueber dies und das in spanisch. Mal lesen wir eine Geschichte zusammen, oder erzaehlen, was am Wochenende los war oder er geht mit uns in den Supermarkt, um uns die oertlichen Fruechte und Lebensmittel vorzustellen.

Punkt 12 faengt die "heilige" Mittagspause an und José (ein Kollege und Masterstudent) und ich sind wohl die einzigen, die nicht zum Mittagessen nach Hause fahren (meine Familie isst erst spaeter). Wir gehen dann in eine Nebenstrasse am Hang der Uni zum Restaurant "Henry Sazón", denn dort, wie in anderen, aber schlechteren Restaurants in Dunstkreis der Uni, gibt es verbilligtes Mittagessen. "Henry Sazón" hat etwa 10 Tische, Studenten als Kellner und liegt schoen in einem Gebaeude aus Bambus mit Blick auf die Westkordilleren. Wenn man frueh genug kommt, gibt es 2 Vorsuppen zur Auswahl, 3 Gemuesebeilagen (oder besser 2x Huelsenfruechte und 1x Gemuese) und 3 verschiedene Fleischsorten zur Wahl und Reis. Ausserdem haben die diese leckeren frischen Saefte. Heute gab es Papaya und suesse Guave.

Der Nachmittag beinhaltet dann arbeiten, im Internet surfen, den Masterstudenten am Roentgendiffraktometer, FTIR-Spektrometer oder im Reinstraum zuzuschauen und zu helfen und mit Leuten quatschen. Um 18 Uhr wird es dunkel und etwas spaeter geh ich nach Hause. Meist bin ich kurz vor 20.00 wieder in der Wohnung (wenn nicht irgendwer hier in die Kneipe geht (was selten vorkommt) oder ich das Kino aufsuche), denn dann gibt es meist Abendbrot. Dann quatsche ich noch mit meinen Gasteltern darueber, wie der Tag war. Meine Gastmutter ist meist sehr geschafft und schlaeft ab 21.00 vor dem Fernseher ein, den meine 16-jaehrige Gastschwester seit dem Nachmittag mit DSDS und Dschungelcamp und aehnlichem fest unter Beschlag hat. Mein Gastvater hat meist noch etwas fuer die Schule vorzubereiten, aber falls nicht, fragt er mich ueber Europa aus: Immanuel Kant (Florentino ist Lehrer fuer Philosophie und Ethik am Gymnasium), Adolf Hitler und das beginnende Jahrhundert, Konsequenzen fuer die moderne Philosophie durch die Theorien Hawking's u.ae. Oder ich erzaehle aus freien Stuecken, wie mich philosophische Ansichten Berkeleys oder Lems gepraegt haben. Ansonsten frag ich ihn viel ueber Kolumbien aus (Geschichte, Lebensumstaende, Politik) und er fragt dasselbe ueber Deutschland. Da hab ich zu tun: Erklaer mal bitte jemand in 5 Saetzen (Richard und Sebastian ausgenommen), was der Praesident von Deutschland noch fuer Rechte hat als Staatschef. Und was im Vergleich der Kanzler darf. Da musste ich tief im Hirn kramen. Achso, natuerlich auf spanisch. Rudimentaeres englisch sprechen nur meine Arbeitskollegen.

Gegen 22.00 lieg ich dann meistens im Bett (Vor Mitternacht! Ich weiss, ich kann es selbst kaum glauben!), les noch ein bisschen (im Moment "Three Men in a Boat" von Jerome K. Jerome), toete ab und zu Muecken, wenn ich sie kriege und kraule Mathilde, die Hauskatze, die es sich fuer die erste Haelfte der Nacht immer auf meiner Decke gemuetlich macht.

Ungefaehr so sieht ein Tag hier aus. Zumindest bis naechste Woche. Dann wird sich das wohl aendern. Also ein Schlafdefizit bekomm ich hier nicht.

Und wie laeuft es bei euch? Bis bald und carpe diem,
Stefan