Morz und wie er die Welt sah...

Samstag, September 19, 2009

Kolumbien - Der Abschied

Liebe Freunde,

gestern frueh bin ich zur Abwechslung mal mit dem Taxi zum Busterminal gefahren. Wegen des schweren Rucksacks. "Wo fahren Sie hin?", fragte der Taxifahrer. "Bogotá!" "Und waren Sie in Salento? Oder haben Sie sich Armenia angeschaut?" Ich sagte, ich hab zwar Salento besucht, aber die letzten 2 Monate hier ander Uni gearbeitet. "Oh, entschuldigen Sie! Ich hab sie mit einem Touristen verwechselt." Das ging runter wie Oel! Ich sagte: "Ab heute bin ich einer!" Kurz danach verliess ich Armenia mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

Doch was ist die letzten Tage in Armenia passiert? Letzten Mittwoch hatte ich ja den ersten Teil meiner "Einfuehrungsvorlesung" in die Klimawissenschaften gegeben. Der zweite Teil folgte spaeter. Zwar blieben am Ende wegen der Laenge nur 6 Professoren und Studenten im Saal, aber immerhin waren die hochinteressiert und fragten viel. Der Donnerstag dazwischen fuehrte mich, Melanie (aus Jena) , Anna (aus Wien) und ihren derzeitigen Freund Leo (aus Armenia) zum Roten Kreuz. Keiner von uns hatte groessere Wunden vorzuweisen - wie waren ja auch nicht wegen der medizinischen Leistungen da, sondern wegen musikalischer. Das Rote Kreuz besitzt naemlich eine Buehne und auf der hatten sich 7 Musiker versammeln, 4 Lauten, 2 Gitarren und 1 Tiple (12-saitige Gitarre). Und spielten recht moderne, spanische Gitarrenmusik. Aber gut. Wenn ich es schaffe, lade ich davon bald ein Video hoch.

Lokalwissenschaften

Am Freitag dann lud mich meine Professorin zum Abschied nach der Arbeit in eine Bar ein. Ihr Mann, welcher Schriftsteller und damit noch belesener als sie ist, war mit von der Partie, ebenso wie ein anderer Professor und ein weiterer Student. Wir sassen im Separee und sprachen ueber meine Eindruecke in Kolumbien, Europa, Buecher, Filme und Alkohol. Apropos Alkohol, nach den ersten Bier konnte ich fliessend spanisch, wodurch meine Professorin angehalten war, meine Fremdsprachenkenntnisse weiter durch Gabe von alkoholischen Getraenken zu steigern, bis am Ende jede Sprache eine Fremdsprache wurde. Das traf nach der vierten Margarita auch auf sie und ihren Mann zu. Wir verliessen grinsend und in leichter Schraeglage gegen Mitternacht die Bar und nur noch zu viert, fuehrte uns der junge Student in eine Disko. Was seltenes hier: Hardcore Techno! Man gab mir wieder etwas in die Hand, Bier, und das Professorenehepaar amuesierte sich hier herrlich. Gegen 1 Uhr fiel ihnen dann ein, dass ja heute in Armenia eine beruehmte Salsaband spielte: Die Hermanos Lebron! Und so schlurften wir in ein Taxi und liessen uns vor die Stadt zu dem selben Laden fahren, in dem ich vor einem Monat Rodrigos ueberteuerten Abschied gefeiert hatte. Der Eintritt war fuer hiesige Verhaeltnisse astronomisch (50.000 Pesos = 25 Euro) aber irgendwie diskutierte uns meine Professorin umsonst hinein. Und die Musik war klasse: Etwa Ibrahim Ferrer. Und eine Menge aus 1000 Leuten ging ab, wie Schmidts Katze, oder vielleicht eher geschmeidig, wie Gomez' Katze. Schoener Anbick. Ich war motorisch nur noch suboptimal befaehigt und so beschraenkte ich mich auf das Zuhoeren und Beobachten dieser tollen Szenerie. Fernando, der Mann meiner Professorin, kam noch auf die glaenzende Idee, eine Flasche Aguardiente zu bestellen, und die nippten wir beide waehrend des Konzertes dann langsam aus. Am Ende des Konzertes entdeckte mich ausserdem die perplexe Marisol, eine salsavernarrte Freundin von mir hier, die mich ueberall erwartet haette, nur nicht auf einem Salsakonzert. Nur weil ich nicht gerne Salsa tanze, heisst es ja nicht, dass ich die Musik nicht mag.... Gegen 4 taumelte ich aus dem Taxi und umarmte gluecklich mein Bett.

Barcelona

Samstag frueh erwartete mich ein ordentlicher Kater. Nein, nicht die kuschelbeduerftige Hauskatze Mathilde, sondern Nachwirkungen vom Vorabend. So liess ich auch das Fruehstueck aus und fuhr direkt nach der Dusche mit dem Bus nach Barcelona. Barcelona zaehlt etwa 2000 Seelen und ist der Heimatort meines Kollegen José. Er holte mich vom Bus ab, wir schlenderten durch die Stadt und er erzaehlte mir seine bewegte Geschichte ebenso wie die seiner Stadt. Als 1999 ein Erdbeben nahezu die gesamte Kaffeeregion dem Erdboden gleichmachte, traf es Barcelona besonders hart. Ich hab auf unserem Rundgang nur 2 Haeuser gesehen, die von vor 1999 waren. Und nicht nur die Wohnhaeuser waren eingestuerzt. Auch die Kirche, die Bruecken und der Friedhof. Ja, wenn man nicht reich ist, begraebt man in Kolumbien nicht in der Erde, sondern in regalartigen Kammern, aehnlich wie in Japan. Als diese einstuerzten, lagen dann die alten Leichen auf der Strasse vor dem Friedhof, zusammen mit den neuen Leichen des Erdbebens. Und die Menschen fingen an, ihnen die Goldzahnen mit Zangen aus dem Mund zu entfernen. Ich sag euch, waehrend ich gerade durch die Friedhofsgasse ging, wirkt das auf einmal sehr real. Beaengstigend.

Inzwischen besitzt jeder Bewohner wieder ein Haus aus Stein. Spenden aus Spanien, Frankreich, Deutschland und anderen Laendern haben dafuer Sorge getragen. Allerdings wurden die Habseligkeiten der Menschen mit ihren Haeusern zerstoert, so das viele keine Arbeit mehr hatten. Wer gut war, konnte Leder oder Pflanzenblaetter gekommen, um Schuhe zu fertigen. Nur konnte niemand die fertigen Schuhe aus Geldmangel kaufen. Drogen hielten Einzug und José erzaehlte mir, wie er selbst 3 Jahre lang mit seinen Freunden auf der Strasse lebte. Es gab einfach nichts zu tun. Heute sagt er, in dieser Zeit habe er das meiste ueber Menschen gelernt, genug Erfahrungen mit Drogen gemacht fuer 3 Leben, aber auch all sein handwerkliches Geschick gelernt. Im Moment baut er einen Schuppen aus Guadua hinter dem Haus seiner Mutter, pflegt den, nein, seinen Garten und drechselt ab und zu. Sein juengerer Bruder hat letztes Jahr einen Preis als landesbester Nachwuchsautor fuer eine Kurzgeschichte bekommen. Und José selbst hat es auch zu etwas gebracht: Er ist Masterstudent fuer Materialwissenschaften und wird zum Jahresende fertig. Er moechte seine Promotion gern in Europa machen. Aber danach in seine Stadt zurueckkehren, um Menschen, wie seinen Freunde eine Perspektive durch Arbeit zu schaffen. Durch eine Fabrik oder aehliches.

Am Nachmittag gingen wir zusammen durch Guaduawaelder hinunter zum Fluss. "Komm schnell her!", rief er mir zu. Aber als ich um die Ecke war, war die schoene, bunte und giftige Korallenotter von ihrem Sonnenbad schon wieder im Wald verschwunden. Unten an Fluss liegt ein Fischteich mit einem riesigen Findling in der Mitte. Wir hatten beide keine Erklaerung, wo der herkommen kann. Aber es liess sich gemuetlich drauf sitzen und bei einem kalten Bier die Kuhreiher und Ibisse beobachten. Aussedem hab ich hier in Barcelona Forcha probiert. Das ist ausgeschaeumter, vergorener Mais und wird mit dem Loeffel gegessen. Schmeckt sehr nach Federweissem. Nur nicht ganz so lecker. Kurz bevor die Sonne unterging, verabschiedete ich mich von José, seiner Familie und Barcelona und fuhr zurueck nach Armenia.

Sonntag

Fuer den Sonntag war eine kleine Abschiedsparty vorgesehen. Chefkoch.de versorgte mich mit dem noetigen Rezept und der Supermarkt gegenueber mit den gewuenschten Lebensmitteln. Und so stand ich am fruehen Nachmittag in der Kueche meiner Gasteltern und kochte meine erste Soljanka. Auch wenn sie nicht am Vortag gekocht war, schmeckte sie fuer meinen ersten Versuch sehr lecker. Spaeter auf der Party wurde ich mehrfach nach dem Rezept gefragt *stolz*. Ich stand also mit mehreren 6ern Bier, saurer Sahne und Petersilie im Rucksack und 4 Litern Soljanka im Topf in der Hand am Strassenrand und hielt ein Taxi an. Das Taxi bewegte sich dann im Tempo eines Krankenwagens waehrend einer Herz-OP durch saemtliche Schlagloecher, um mir nicht die Suppe ueber die Knie zu schuetten. Kurz nach 18 Uhr erreichte ich das Haus von Marisol. Ihre polnische Untermieterin Emilia war lieber tanzen gegangen, als mit uns zu feiern (worueber ich sehr enttaeuscht war), aber alle anderen kamen - und wir hatten einen tollen Abend. Anna mit ihrem kolumbianischen Freund Leo war da, Melanie aus Jena, meine treue Reisebegleiterin Ellen mit ihrem Freund Paolo, den ich aus Manizales kannte und der mir eine von seiner Tante gestrickte Winterausstattung (Muetze und Schal) schenkte *tiefe Dankbarkeit*, die mexikanische Ausstauschstudentin Andrea, mit der ich in Medellín war und natuerlich Marisol. Bei Bier und Wein quatschten wir gemuetlich in einem Kauderwelsch aus drei Sprachen, bis unserer Gastgeberin die Augen zufielen. Es war ein toller Abend und ein schoener Abschluss fuer mich.

Mittwoch

Gestern frueh dann sass ich also im Bus nach Bogotá. "Boah, die scheiss Klimaanlage!" unkte es auf deutsch. 2 gutaussehende Deutsche sassen auf der Bank neben mir im Bus und stahlen mir den letzten Nerv. "Och, jetzt machen die auch noch nen Film im Bus an! Bestimmt wieder Terminator oder so'n Schrott! Wollen wir mal fragen, ob die das ausstellen koennen?" "Das geht bestimmt nicht!", sagte die andere. "Wollen wir trotzdem fragen?" (Tu doch! Frag, oder frag nicht, aber hoer auf zu noergeln!, dachte ich nur.) "Ach kuck mal, das ist doch Liam Neeson. Wenn das der Film ist, der ich denke, dann is der voll gut!" Der Film war auch gut. Nur hatte ich ihn schon von Medellín nach Armenia im Bus gesehen. "Oh kuckmal, die krickt'n Pferd geschenkt!" (Als ob das nicht beide im Film sehen wuerden). Zur Wahrung meiner Stimmung kramte ich meine Kopfhoerer raus und fing an "Poems for Laila" zu hoeren, als der Bus langsam die Stadt verliess. Die Stimme singt "time away", waehrend ich mit schwerem Herzen zurueck auf die Strassen und Haeuser der Stadt blicke, die die letzten 2 Monate meine Heimat war. Und alle waren sie wieder da in meinem Kopf: Meine Gastfamilie, meine Professorin, meine Arbeitskollegen José und Ana, aber auch die niedliche Internetladenempfangsdame von gegenueber, die immer mit mir flirtete, der Uni-Wachmann, der mich jeden Tag mit breitem Laecheln gruesste, Álvaro, mein Spanischlehrer, der nach 13 Jahren Priesterseminar der einzige echte Atheist Kolumbiens ist, die Kuechenchefin bei Henry Sazón, die mir nach dem Mittagessen immer noch ein Bonbon zusteckte, Diana, die Systemadministradorin der Uni, mit der ich durch die Waelder von Calarcá wanderte und all die anderen. Und dann war Armenia unter der Wolkendecke des Andenpasses verschwunden.

Gegen Abend erreichte ich schliesslich Bogotá und holte einen geschafften, aber strahlenden Jimmy vom Flughafen ab. Die letzte Nacht hatten wir dann viel zu quatschen und heute faengt eine neue Zeitrechnung an: die der zwei Suedamerikanreisenden!

Ich wuesch euch alles Gute und bis bald im diesem Theater. Carpe diem,

Stefan